Schottern mit Amos!

Wider “ein Gesetz, das tötet”: Warum Theologinnen und Theologen im Wendland gegen die Castortransporte protestieren

Aufwachen mit eiskalten Füßen, Scheinwerfer der Polizeikräfte, die das Camp ausleuchten, Zusammenrücken an den Feuertonnen: Eindrücke der frühen Morgenstunden am Sonntag, den 7. November 2010. Dann das Signal zum Aufbruch. Ein Zug mit ungefähr 2000 Menschen macht sich auf den Weg. Er führt über Waldwege, durch Unterholz und an Äckern vorbei. Die idyllische Situation im Morgengrauen wirkt beinahe surreal. Einige Zeit später schlägt sie in harte Realität um. Schwer bewaffnete Polizist_Innen und zielstrebige Demonstrierende stehen sich vor den Gleisen im Wendland gegenüber.

Mittendrin ist auch Amos. Amos, der biblische Prophet, der für ein Beharren auf Gerechtigkeit steht und scharfe Kritik an Ausbeutungsverhältnissen übt. Amos, der Name unserer Bezugsgruppe. In solche Bezugsgruppen haben sich die Demonstrierenden jeweils zu sechst eingeteilt, um in den verschiedenen Widerstandsaktionen handlungsfähiger zu sein und um sich gegenseitig emotional
und praktisch zu unterstützen. Wir haben beschlossenen, als theologische Gruppe am Widerstand gegen den Castortransport in Form der Aktion „Castor? Schottern!“ teilzunehmen und diesen Akt des zivilen Ungehorsams fortwährend theologisch zu durchdenken. Wir stellen uns aus denselben Gründen quer, wie viele tausend andere Teilnehmer_Innen an der „5. Jahreszeit im Wendland“ auch.
Weil die Fortführung der Kernenergie ein Verbrechen an der Umwelt ist und an den Generationen nach uns, die sich mit dem giftigen Abfall herumschlagen müssen. Weil sie eine Ungerechtigkeit an den Arbeiter_innen in den Uranminen darstellt und an den Menschen, die an Leukämie sterben, weil sie zu nahe an einem Kraftwerk leben. Weil dem Weiterbetrieb von Atomkraftwerken menschenfeindliche Kapitalinteressen und vielfältige globale Ausbeutungsverhältnisse zu Grunde
liegen, wenn zum Beispiel europäischer Atommüll plötzlich an der Küste Somalias auftaucht. Der Widerstand gegen Atomenergie ist deshalb auch eine Frage der Gerechtigkeit.

Atomenergie tötet jetzt!
Ungeachtet dieser Tatsachen und bestehenden Protesten ist es eine maßlose Arroganz (wir nennen es auch Sünde) Gesetze zu verfassen, welche Laufzeiten von Atomkraftwerken verlängern. Denn in diesem Fall ist es das Gesetz, das tötet, indem es eine Technik schützt, die tötet. So ist zwar eine Gesetzesüberschreitung durch die Aktion „Castor? Schottern!“ nicht legal, aber für uns legitim. Im Wendland wollten wir zusammen mit tausenden Menschen an das Gleisbett treten und Steine ins
Rollen bringen. Wir erkennen darin den Stein wieder, der schon einmal den Tod besiegeln sollte und dessen Überwindung von den Frauen am Grab Jesu bezeugt wurde (Lk 24,1 ff.). Inspiriert durch Befreiungstheologien in Lateinamerika, aber auch in Asien, Afrika und Europa, sehen wir das Wendland als einen Ort, von dem aus Theologie betrieben und neu gedacht wird. So möchten wir uns die folgenden Fragen in diesem Kontext stellen: Wo wird heute Jesu Tod erneut besiegelt? Wo
werden heute Menschen wie Jesus an ein Kreuz genagelt? Und wo sind die heutigen Frauen und Männer, die die Überwindung des Todes und Auferstehung in Wort und Tat bezeugen?

Das Wendland und das Reich Gottes
Kein weiterer Arbeiter, keine weitere Arbeiterin, nicht noch ein Kind sollen an den Folgen des Uranabbaus in Kenia, Indien oder Australien sterben und die Atommülllager sollen jetzt aufhören, sich mit Hunderttausende Jahre strahlendem Müll zu füllen. Die Frage der Gerechtigkeit und die Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung der Umstände bedeutet für uns Glaube an das Reich Gottes. Diese Vision wird in der Offenbarung des Johannes beschrieben: „Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde (…) und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod
wird nicht mehr sein. (…) Siehe ich mache alles neu!“ Das Reich Gottes soll dabei nicht nur eine Vision darstellen, sondern eine präsentische Subversion des Lebens gegen den Tod. Infolgedessen äußerst sich Glaube für uns ebenso an der Beteiligung an solchen Demonstrationen und Akten des zivilen Ungehorsams, die gegen Umstände des Todes aufstehen. Im Wendland geschieht dies auf außergewöhnliche Art und Weise. Hier sind es die Apfel­ und Milchbäuer_Innen, die mit ihren Treckerblockaden und einem enormen Engagement den Widerstand gegen Atomkraft tragen und ermöglichen. Nicht die Institution Kirche ist das Zentrum des Aufstands, sondern die
Gemeindehäuser, die Scheunen und Äcker werden zu Orten konspirativer Versammlungen und befreiender Erlebnisse. Außergewöhnlich und befreiend war für uns auch zu erleben, wie angesichts der brutalen Polizeigewalt vor den Schienen Demonstrierende die Stärke bewiesen, nicht mit Gegengewalt zu reagieren. Sie blieben dem vorher veröffentlichten Aktionskonsens treu, demnach
es das Ziel war, die Schiene unbrauchbar zu machen und nicht die Polizei anzugreifen. Es gelang auch einigen zu schottern, die Mehrheit der Aktivist_Innen wurde jedoch trotz mehrerer Anläufe durch den erschreckend massiven Einsatz von Pfefferspray, Tränengas, Schlagstöcken, Reiterstaffeln und Wasserwerfern davon abgehalten. Mit der Vision des Reichs Gottes schien solch ein Vorgehen unvereinbar.

„Der Widerstand wächst“
Mit 92 Stunden Fahrtzeit hat der diesjährige Widerstand nicht nur zum längsten Castor­Transport in der Geschichte des Wendlands geführt. Durch die massenhaften und notwendigen Regelverletzungen (wie Gleisblockaden und Schottern) hat er auch das Verständnis von zivilem Ungehorsam radikalisiert und erweitert. Wir hoffen, dass diese Erfahrung des Widerstands auch in breiten Teilen der Gesellschaft aufgegriffen und weitergetragen wird. Wir sehen diese
Widerstandsformen als Teil eines größeren, vielfältigen und bunten Protestes. Dieser ruft in einen weit reichenden Prozess der Umkehr, welcher sich von der Herrschaft des Todes abkehrt. Unser Glaube ist, dass aus vielen Stimmen Hoffnung wird, wo nicht einmal mehr Trauer wuchs. Und so heißt es hoffentlich nicht nur beim nächsten Castor­Transport wieder: Amos – sammeln!

Fürchtet euch nicht, der Widerstand wächst
die herrschenden können die schrift an der wand nicht mehr übersehen
die beherrschten kehren sich ab vom kopfnicken
die Waffenhändler wagen nicht mehr über die am boden liegenden zu steigen
die bischöfe geben die schlüpfrigen reden auf und sagen nein
die freunde und freundinnen jesu blockieren die Straßen des overkill
die schulkinder erfahren die wahrheit
woran sollen wir einen engel erkennen
außer dass er und sie mut macht wo angst war
freude wo nicht mal mehr trauer wuchs
einspruch wo sachzwang herrschte
abrüstung wo terror glaubwürdig drohte
fürchte dich nicht der widerstand wächst
(Dorothee Sölle)