Auseinanderleben! Warum im Abtreibungsdiskurs eine ökumenische Abgrenzung nach rechts dringend geboten ist

Eine studentische Reaktion auf den Artikel „Auseinandergelebt – Wenn es um Suizidassistenz oder Abtreibung geht, sprechen evangelische und katholische Kirche nicht mehr mit einer Stimme“, den Professor Bormann am 31.01.2024 in der Zeitschrift „Communio“ veröffentlichte.1

Ulli Pfaff, Ortsgruppe Tübingen des Befreiungstheologischen Netzwerks

Warum wir als Studierende reagieren

Wir als Studierende der christlichen Theologien und Teil der ökumenischen Gruppe Befreiungstheologisches Netzwerk Tübingen sehen uns in der dringenden Pflicht, auf den Artikel zu reagieren und auf die Gefahren hinzuweisen, die wir in diesem Text sehen. Prof. Bormann ist nicht nur mit seinem Lehrstuhl an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen in einer erheblichen Machtposition, sondern erfährt medial auch durch seine Mitgliedschaft im Deutschen Ethikrat eine häufig unkritische Popularität: So geben katholische Medien2 ohne jegliche Reflexion die fragwürdigen Analysen des Artikels wieder. Das können wir nicht unkommentiert stehen lassen.

Betroffene sind unter uns

Die EKD habe beim Thema Abtreibung „ohne Not Grundsatzpositionen aufgegeben”3, schreibt Prof. Bormann. Nach einer Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus dem Jahr 2012 gibt circa jede 6. Frau in Deutschland an, mindestens einmal ungewollt schwanger gewesen zu sein4. Etwa 1 von 12 Frauen bricht im Laufe ihres Lebens eine Schwangerschaft ab.5 Menschen, die sich die Frage stellen, ob sie eine Schwangerschaft behalten wollen, und Menschen, die sich zu einem Abbruch entscheiden, sind Teil unserer Gesellschaft und damit auch des Diskurses zu dieser Thematik – auch wenn sie aufgrund von Stigmatisierung wenig gehört werden. Wir wollen mit Menschen, die in diesen schwierigen Situationen oft nicht gesehen werden, solidarisch sein. Im Diskurs um das Thema Schwangerschaftsabbruch fordern wir, dass die Nöte dieser Menschen, die Grundsatzpositionen durchaus anfragen, gesehen, gehört und in der Debatte berücksichtigt werden. Wir sind der Meinung, zu sagen, dass Änderungen an Grundsatzpositionen „ohne Not“ geschehen seien, die Erfahrungen vieler betroffener Menschen ausblendet.

Wer hat sich hier eigentlich “auseinandergelebt”?

Die Pflöcke, die Prof. Bormann mit seinem Artikel in das ökumenische Feld schlägt, zeugen von einer Selbstverständlichkeit bezüglich vermeintlicher Eindeutigkeiten der Ökumene, die wir als ökumenische Gruppe nicht unwidersprochen lassen können. Und nicht nur wir folgen dem darin zugrundeliegenden Verständnis von Ökumene nicht. Mittlerweile hat Ulrich Körtner – ebenfalls in der Communio – eine Antwort aus evangelischer Sicht formuliert. So warnt er völlig richtig davor, „die ökumenische Geschlossenheit zurückliegender Jahrzehnte zu idealisieren”6. Prof. Bormanns Artikel strotzt dagegen nur so von einem nostalgischen Sehnen nach vergangenen, vermeintlich „besseren” Zeiten. Allerdings gab und gibt es sowohl in der evangelischen wie in der katholischen Kirche unter Ethiker*innen einen Pluralismus von Meinungen in Bezug auf bioethische Fragen. Außerdem zeigen sich gegenwärtig, wie Körtner ebenfalls betont, mit dem Synodalen Weg in Deutschland und dem Synodalen Prozess auf Weltebene „erhebliche Differenzen, beispielsweise auf dem Gebiet der Sexualmoral und einer Ethik der Beziehungen”7 innerhalb der katholischen Kirche, die im Artikel Prof. Bormanns nicht einmal erwähnt werden. Wir können demnach nicht anders, als die von Prof. Bormann behauptete innere und äußere Einheitlichkeit beider christlicher Kirchen im Sinne einer Komplexitätsreduktion und einer verkürzten Gleichsetzung von römischem Lehramt mit katholischer Kirche zu lesen.
Wenn Prof. Bormann deshalb in seinem Artikel durchgängig ein Bild der „auseinandergelebten”8 Ökumene zeichnet, für die einzig und allein die evangelische Kirche verantwortlich sei, weil sie sich vom Konsens mit der katholischen Kirche entfernt habe, dann hören wir das als kulturkämpferische Polemik. Anstatt einer ökumenisch-dialogischen Haltung, die ein Zugehen aufeinander und gemeinsames Aushandeln implizieren würde, finden wir in seinem Artikel uns unverständliche Arroganz, die sich darin ausdrückt, dass die ökumenische Welt sich doch gefälligst um die katholische Kirche zu drehen habe. Falls nicht – und das klingt dann endgültig wie eine Drohgebärde –, sieht sich die katholische Kirche einfach nach „neuen Allianzen”9 um.

Welche „neuen Allianzen“, Prof. Bormann?

Während aktuell in beiden großen Kirchen Menschen dafür kämpfen, den christlichen Glauben vor rechtsextremer Instrumentalisierung zu schützen und Brandmauern gegen rechts zu errichten (an dieser Stelle betonen wir unsere volle Solidarität mit der Initiative „Nächstenliebe verlangt Klarheit – Antifaschistische Kirche jetzt!“10), erscheint es uns fahrlässig, insbesondere im Themenfeld der Abtreibung von „neuen Allianzen“ zu raunen, ohne klar zu benennen, wer oder was damit gemeint ist. Auch die Deutsche Bischofskonferenz betont in ihrer Erklärung „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“ die Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung zu „rechtsextreme[n] Parteien und solche, die am Rande dieser Ideologie wuchern“.11 Was soll es bedeuten, den ökumenischen Denkhorizont zu weiten, wie Prof. Bormann fordert? Wenn, wie 2023 beim sogenannten „Marsch für das Leben”, Rechtsextreme neben katholischen Bischöfen gemeinsam mit fundamentalistischen Christ*innen laufen12, entstehen faktisch neue Allianzen, welche unserem Verständnis von Christ*innentum unvereinbar gegenüberstehen. Die Frage der reproduktiven Selbstbestimmung wird bewusst durch rechtspopulistische und rechtsextreme Akteur*innen benutzt, um als Scharnier zu bürgerlich-konservativen Kreisen zu fungieren.13 Wer in diesem Themenfeld auf der Suche nach „neuen Allianzen“14 ist, sollte sich davor hüten, zum Werkzeug dieser Demagogen zu werden. Diese Entwicklungen müssten auch Prof. Bormann bekannt sein. Wir können nicht nachvollziehen, warum er es nicht für nötig gehalten hat, solche Formen von Allianzen auszuschließen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er genau diese meint.

Nach der Lektüre von Prof. Bormanns Artikel bleiben wir mit Entrüstung und Wut zurück. Wir hoffen, dass auch andere Angehörige der Fakultät und Universität kritisch nachfragen und einem zweifelhaften Geraune nach neuen Allianzen deutlich widersprechen.

  1. Franz-Josef Bormann, „Auseinandergelebt: Wenn es um Suizidassistenz oder Abtreibung geht, sprechen evangelische und katholische Kirche nicht mehr mit einer Stimme“, Communio, 31. Januar 2024, https://www.herder.de/communio/gesellschaft/wenn-es-um-suizidassistenz-oder-abtreibung-geht-sprechen-evangelische-und-katholische-kirche-nicht-mehr-mit-einer-stimme-auseinandergelebt/ (letzter Zugriff: 24.04.2024, 18 Uhr). ↩︎
  2. „Moraltheologe: Protestanten kündigen Ethik-Konsens mit Katholiken auf“, Katholisch.de, 31. Januar 2024, https://www.katholisch.de/artikel/50754-moraltheologe-protestanten-kuendigen-ethik-konsens-mit-katholiken-auf; Gottfried Bohl, „Neue Bündnisse nötig“, domradio.de, 31. Januar 2024, https://www.domradio.de/artikel/evangelische-kirche-entfernt-sich-ethisch-von-katholiken (letzter Zugriff: 24.04.2024, 18 Uhr). ↩︎
  3. Bormann, „Auseinandergelebt“. ↩︎
  4. Cornelia Helfferich u. a., Hrsg., Frauen leben 3 – Familienplanung im Lebenslauf von Frauen: Schwerpunkt: ungewollte Schwangerschaft: eine Studie, Auflage: 1.1.10.16, Forschung und Praxis der Sexualaufklärung und Familienplanung, Band 38 (Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 2016), 182. ↩︎
  5. Helfferich u. a., 151. ↩︎
  6. Ulrich H. J. Körtner, „Differenzierter Konsens?: Weshalb die Ökumene auch in der Bioethik an Grenzen stößt“, Communio, 1. Februar 2024, https://www.herder.de/communio/gesellschaft/weshalb-die-oekumene-auch-in-der-bioethik-an-grenzen-stoesst-differenzierter-konsens/ (letzter Zugriff: 24.04.2024, 18 Uhr). ↩︎
  7. Körtner. ↩︎
  8. Bormann, „Auseinandergelebt“. ↩︎
  9. Bormann. ↩︎
  10. https://weact.campact.de/petitions/nachstenliebe-verlangt-klarheit-antifaschistische-kirche-jetzt?source=rawlink&utm_medium=recommendation&utm_source=rawlink&share=ac2ef8fd-665b-4e10-aed3-e825967f5e31 (letzter Zugriff: 24.04.2024, 18 Uhr). ↩︎
  11. Deutsche Bischofskonferenz, „Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar“, 22. Februar 2024, S. 3. https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2024/2024-023a-Anlage1-Pressebericht-Erklaerung-der-deutschen-Bischoefe.pdf ↩︎
  12. Stefan Hunglinger, „Kirche beim ‚Marsch für das Leben‘: Der Bischof marschiert mit Rechten“, Die Tageszeitung: taz, 18. September 2023, Abschn. Gesellschaft, https://taz.de/!5958080/ (letzter Zugriff: 24.04.2024, 18 Uhr). ↩︎
  13. Vgl. Sonja Angelika Strube, „Anti-Genderismus als rechtsintellektuelle Strategie und als Symptom-Konglomerat Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“, in: Strube u.a., Hrsg., „Anti-Genderismus in Europa: Allianzen von Rechtspopulismus und religiösem Fundamentalismus. Mobilisierung–Vernetzung–Transformation“, Bielefeld: transcript, 2021, S. 51-63. https://doi.org/10.1515/9783839453155-004 ↩︎
  14. Bormann, „Auseinandergelebt“. ↩︎