von J.A. und S.T.

Sie tauschen Kochrezepte aus, stricken, schwätzen miteinander und scheinen die Anzugträger, die sich mit dem Weinglas in der Hand um sie herum postiert haben, gar nicht wahrzuneh­men. Diese leicht absurde Szenerie ist Teil ei­nes kreativen Protests: Studierende der evangelischen Theologie in Tübingen protestieren gegen polemische Äußerungen eines angesehenen Professors.

Der umstrittene Münchener Theologe Friedrich Wilhelm Graf hält am 2. Dezember 2010 einen Vortrag zum 150. Todestag von Christian Ferdinand Bauer. Eine Gruppe von Studierenden hat zu einem „Kreativen Protest“ aufgerufen. Die Protestierenden treffen sich, um zu­sammmen Professor Graf „seine Horrorvision vorzuspielen“1. Der hatte sich zuvor auf einer Tagung der FAZ zu dem Ausspruch hinreißen lassen:

“Nunmehr wird der Beruf des evangelischen Pfarrers zu einem Frauenberuf. Junge Frauen, meistens eher mit einem kleinbürgerlichen Sozialisationshintergrund, ich sag mal, eher Muttitypen als wirklich Intellektuelle und irgendwie eine Form von Religiosi­tät, in der man Kuschelgott mit schlechtem Geschmack verbinden kann.” 2

Die Protestierenden nahmen den Professor kurzerhand beim Wort und folgten einer Aufforderung, in der es hieß: „packt Stricknadeln, Häkelsachen, Schürzen, Lockenwickler, Kinder, Windeln, Töpfe etc. ein und lasst uns ein großes Kaffeekränzchen im Theologicum veranstalten!“3 Auf Picknickdecken am Boden vor dem Hörsaal, in dem der Vortrag stattfinden sollte, fanden sich bereits lange vor dem Beginn der Veranstaltung dreißig Studierende mit selbstgebackenem Kuchen, Glühwein und Gitarre ein. Als die erwartungsfrohen HonoratiorInnen eintrafen, mussten sie sich ihren Weg zwischen Töpfen und Schürzen bahnen, es kam zur beschriebenen Szene.

Mit Protesten hatte Graf zweifellos gerechnet, mit dieser Form wohl eher nicht. Diese neue Art des Widerstandes verdient eine kurze Reflexion. Dabei wollen wir zeigen, dass es ihr besser gelingt, mit der gezielten Provokation umzugehen, als konfrontativeren Protestformen. Dieser Protest macht sich nämlich weder zum Handlanger beim Heischen nach Aufmerksamkeit noch lässt er die arroganten Äußerungen auf sich beruhen. Wir glauben, dass sich dies mit postkolonialer Theorie besonders gut demonstrieren lässt.

Warum die feministische Theologie nicht weiterführt

Als „diskriminierend“ und „wissenschaftlich falsch“4 bezeichnete die Professorin für Feministische Theologie Renate Jost erwartungsgemäß die Aussagen ihres Kollegen Graf. Indem sie auf sei­ne Argumente eingeht – und sei es nur, um diese zurückzuweisen und zu widerlegen – geht sie gera­de dem geschickten Provokateur auf den Leim. Entspricht es nicht gerade dessen Kalkül, die eige­nen Argumente durch solchen Widerspruch aufzuwerten? Und seien wir ehrlich: Wäre ein hochin­tellektueller Theologe, wenn er platte chauvinistische Sprüche reißt, nicht nachgerade enttäuscht, wenn er keinen beleidigten Widerspruch vonseiten der feministischen Theologie erführe? Diese Art der Intervention macht in ihrer reflexhaften Berechenbarkeit die Notwendigkeit anderer Protestformen besonders deutlich.

Was ist postkolonial?

Die postkolonialen Theorien stammen aus dem Bereich der Literaturwissenschaft und bauen auf verschiedenen philosophischen Konzepten auf. Der indische Literaturwissenschaftler Homi K. Bhabha gibt die folgende Definition von Postkolonialismus:

„Postkolonialität […] ist eine heilsame Erinnerung an die andauernden ‘neokolonialen’ Beziehungen innerhalb der ‘neuen’ Weltordnung und der multinationalen Arbeitsteilung. Eine derartige Perspektive ermöglicht es, Geschichten der Ausbeutung mehr Authentizi­tät zu verleihen und Strategien des Widerstands zu entwickeln.“5

Um dieser Strategien des Widerstands willen haben postkoloniale DenkerInnen Analyseinstrumente entwickelt, um Machtdiskurse kritisch zu hinterfragen. Mit deren Hilfe lassen sich Äußerungen im Spannungsfeld großer Machtungleichheiten einordnen und kreativer Widerstand wird erkennbar, wo man ihn nicht vermutet hätte. Die postkoloniale Denkerin G. C. Spivak spricht von „Meis­terdiskursen“, die Mächtige aufbauen, um „mittels diskursiver Techniken das Subjekt des marginali­sierten Anderen darzustellen oder zu konstruieren.“6
Auch in Tübingen haben wir es mit einem solchen Meisterdiskurs zu tun: Der Leib­nizpreisträger konstruiert das Subjekt der jungen Frau mit kleinbürgerlichem Sozialisationshinter­grund als das der Anderen, dem gegenüber er sich mit seinem intellektuellen Niveau profilieren möchte. Doch wie lässt sich diesem Versuch, junge Frauen zu marginalisieren, begegnen?

Muttityp=Mimikry

Das Instrument der Wahl ist in unserem Fall das der Mimikry. Mit diesem aus der Biologie entlehn­ten Begriff wird in der postkolonialen Kritik ein Verhaltensmuster bezeichnet, dass sich bei Kolonialisierten bzw. im Diskurs Unterlegenen findet: Sie nehmen die Kultur, Stereotypen und Verhaltensweisen auf, die ihnen die Kolonialherren zuschreiben, um sie zu „Anderen“ zu machen. Allerdings geschieht dies nie in einer exakten Imitation, sondern immer – bewusst oder unbewusst – leicht verfälscht.7 Auf diese Weise halten sie den Kolonialherren eine Art parodistischen Spiegel vor, der diese in ihrer eigenen Selbst­sicherheit erschüttert. Der Weg von der Mimikry zur Posse ist nie weit.
In unserem Fall findet die Konfrontation statt zwischen einem Münchner Systematikprofessor, dem ersten Leibnizpreisträger aus den Reihen der Theologie und einer Ansammlung von pauschal diskri­minierten Studierenden ohne öffentliche Stimme. Auf dem Feld des universitären Diskurses sind damit die Kräfte ungleich genug verteilt. Während er seine anerkannte Expertise öffentlich dazu einsetzt, Studentinnen das intellektuelle Niveau abzusprechen, haben die so Diffamierten keine Möglichkeit, auf Augenhöhe zu erwidern.
Die klassische, konfrontative Art des studentischen Pro­testes mit Bannern und Parolen hätte – ähnlich wie für die feministische Theologie gezeigt – dazu beigetragen, die ohnehin schon übergroße mediale Präsenz Grafs noch zu steigern und seine pole­mischen Argumente diskursiv aufzuwerten.
Daher fand dieses Spiel, bei dem von vornherein klar war, dass nur Friedrich Wilhelm Graf gewinnen konnte, ein­fach nicht statt.

Stattdessen also die Mimikry. Das Vorspielen der Grafschen Schreckensvision inklusive aller Ste­reotypen von schlechtem Geschmack, einfachem Gemüt und Kuschelgott. Entsprechend betreten wirkten denn auch einige der VortragsbesucherInnen angesichts der Szenerie, die sie auf dem Weg zur Veranstaltung passieren mussten. Auch Graf selbst wusste zunächst nicht, was tun. Umso erleich­terter wirkte er, als sich nach einiger Zeit doch noch ein Gespräch mit den Protestierenden entwickelte, bei dem er klarstellen konnte, dass natürlich alles nicht so gemeint und er falsch verstanden worden sei.
In diesem Moment ist der kurze Zeitpunkt des Widerstands schon vorbei: Der Moment der Unsicherheit, der offenen Frage „Nachahmung oder Verspottung?“, das „fast aber doch nicht ganz dasselbe“. Der Augenblick, in dem statt der als Zeichen der gelungenen Provokation erwarteten Konfrontation etwas Unerwartetes geschieht.
Dieser Widerstand ist nicht in sich eindeutig, die Frage „Nachahmung oder Verspottung?“ bleibt of­fen und die Situation auf Interpretation angewiesen. Indem die Studierenden sich den negativen „Muttityp“-Begriff zu eigen machen, deuten sie ihn um. So kann der Muttityp dem Leibnizpreisträ­ger ein Schnippchen schlagen, die Umarmung des Kuschelgottes wird zum Zeichen des Wider­stands.

Und was hat das mit Theologie zu tun?

Diese Form des Widerstandes hat durchaus biblische Tradition. Das wird exemplarisch deutlich an einer postkolo­nialen Auslegung der Geschichte von Jesus und der Syrophönizierin (Mk 7,24-30 || Mt 15,21-28) von Kwok Pui-Lan.8

In dieser Begebenheit ist es Jesus, der einen Meisterdiskurs aufbaut, indem er die Bitte der Frau, ihre Tochter zu heilen, barsch ablehnt:

„Lass zuerst die Kinder satt werden, denn es ist nicht recht, den Kindern das Brot weg­zunehmen und es den Hunden vorzuwerfen.“

Auch hier liegt für die Frau der Schlüssel zur Überwindung des Konflikts nicht in der Annahme der Provokation, sondern in einer Art Mimikry. Sie nimmt das ihr zugeschriebene Bild vom Hund auf und wendet es gegen seinen Schöpfer:

„Ja, du hast Recht, Herr! Aber selbst die Hunde unter dem Tisch bekommen von dem Brot, das die Kinder übrig lassen.“

Indem sie sich das Schimpfwort „Hund“ aneignet, übergeht die Frau die Provokation. Es entsteht wie­der der Moment des Widerstands, in dem der negative besetzte Begriff seiner scheinbar klaren Be­deutung beraubt wird und so plötzlich in der Schwebe hängt. „Unterwürfige Nachahmung oder Ver­spottung?“ lautet die Frage, die im Raum steht zwischen Jesus und der Heidin. Dass die Frau ihren Willen am Ende bekommt, zeigt, dass es möglich ist, durch diese Art der Mimikry einen Meisterdis­kurs aufzubrechen.

Für kreative Theologie gibt es Leibnizpreise. Aber für kreativen Widerstand gibt es eine extra-Umarmung vom Kuschelgott.

Fußnoten:
1 Die folgendenen Zitate beziehen sich auf den Aufruf eines Aktionsbündnisses unter dem Titel „Kreativer Widerstand –
ein Aufruf anlässlich des Vortrages von Prof. F.W. Graf am 2. Dezember im Theologicum“, der per Kettenmail kursiert war.
2 Zitiert nach http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/1302537/.
3 Aufruf des Aktionsbündnisses, siehe Fußnote 1.
4 Siehe die Pressemitteilung, wie sie unter http://www.epv.de/node/6904 zu finden ist.
5 Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2007, (=Stauffenburg Discussion. Studien zur Inter- und Mul­tikultur, Bd.5, Elisabeth Bronfen u.a.[Hg.]),S.9.
6 Kwok Pui-Lan, Interpretation als Dialog. Eine biblische Hermeneutik aus Asien, Luzern 1996, S. 141 f. Kwok be­zieht sich dabei auf zwei Bücher von Spivak: „In other worlds: Essays in cultural politics“, 1987 und „The Post-Co­lonial Critic: Interviews, Strategies, Dialogues“, 1990.
7 Bhabha dazu: „Die koloniale Mimikry [ist] das Begehren nach einem reformierten, erkennbaren Anderen als dem Subjekt einer Differenz, das fast, aber doch nicht ganz dasselbe ist.“, S. 126.
8 A.a.o., S. 140-159.