Befreiende Theologien im Hier und Jetzt.

Bericht: Ökumenischer Studientag am 19. Januar 2023 in Tübingen

Am 19. Januar 2023 fand ein ökumenischer Studientag zu dem Thema „Befreiende Theologien im Hier und Jetzt“ an den beiden christlich-theologischen Fakultäten in Tübingen statt. Ausgerichtet wurde dieser von uns, der befreiungstheologischen Ortsgruppe Tübingen.

Gestartet hat der Studientag mit den Grußworten der Dekan:innen beider christlich-theologischen Fakultäten: Andreas Holzem erzählte uns von seinen ersten persönlichen Berührungspunkten mit der Befreiungstheologie Leonardo Boffs während seines Studiums. Birgit Weyel hob die Aktualität sowie die Wichtigkeit des Themas des Studientages hervor, verbunden mit dem Akzent auf einer Pluralisierung „Befreiender Theologien“ der Gegenwart. Theologie müsse befreiend sein, um überhaupt als solche gelten zu können. Im Anschluss stellten wir als studentische Gruppe den Ablauf und unsere Idee des Studientages vor: Uns ging es nicht nur um notwendige inhaltliche Diskussionen über politisch-parteiliche und praktische befreiende Theologien heute, sondern auch um eine strategische Sichtbarmachung solcher Theologien in Lehre und Forschung an beiden Fakultäten. Uns war es wichtig, die Faszination für befreiendes theologisches Denken – gerade auch mit Studierenden, die eventuell noch am Anfang ihres Studiums stehen – zu teilen.

In diesem Sinne startete Rita Perintfalvi, unter anderem promovierte Alttestamentlerin und Publizistin in Graz, ihren Input zu aktuellen Geschlechterdebatten in „christlichen Regimen“ am Beispiel Ungarns. Sie zeigte die perverse Verknüpfung theologischer Motive und diskriminierender Politik auf und verband dies mit persönlichen Einblicken in ihre aktivistische Arbeit gegen strukturellen sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in Ungarn. In der anschließenden Pause konnten die Studientagsteilnehmenden bei Keksen in einem Seminarraum zum Thema passende Materialien und Bücher anschauen und miteinander ins Gespräch kommen. Auch boten Stellwände mit verschiedenen Fragen die Möglichkeit zur Interaktion.

Im zweiten Input des Vormittags stellte uns Claudia Jahnel, Professorin für Interkulturelle Theologie und Körperlichkeit in Bochum, ein Programm dekolonialer Theologie, ausgehend von den Studierendenprotesten in Südafrika und England, vor. Gemeinsam diskutierten wir das Festhalten an einem Kanon in theologischer Lehre und Forschung, der von männlichen und europäischen Denker:innen dominiert wird. Dieser Eurozentrismus sollte unter anderem durch Pluralisierung und Kontextualisierung theologischen Wissens sowie den Aufbau einer „globalen Infrastruktur antikolonialer Verbindungen“ dekonstruiert werden. Nach dem Vormittag gingen viele Studientagsteilnehmende ins theologische Mentorat zum gemeinsamen Mittagessen, das von Mitgliedern der beiden Fachschaften zubereitet wurde.

Der Nachmittag startete mit einer Gesprächsrunde, die von Katharina Zimmermann und Hans-Ulrich Probst moderiert wurde, die beide als wissenschaftliche Mitarbeiter:innen an den theologischen Fakultäten arbeiten. Auf dem Podium saßen Jürgen Kaiser von erlassjahr.de, Peter Schönhöffer von Kairos Deutschland und Boniface Mabanza von der Kirchlichen Arbeitsstelle Südliches Afrika. Sie stellten sich und ihre Arbeit vor und sprachen über Herausforderungen befreiender theologischer Praxis der letzten Jahrzehnte bis heute. Daran anschließend teilten sich die Teilnehmenden in Workshops auf, die von den drei Personen auf dem Podium geleitet wurden. In ihnen sprachen wir über globale Schuldenerlasse und deren biblische Begründung, die Verbindung von Theorie und Praxis in befreiungstheologischer Gegenwart und Herausforderungen kirchlicher Lobbyarbeit. Einen vierten und digitalen Workshop bot Decolonize Theology an, eine Studierendeninitiative aus Hamburg, die sich für die Dekolonisierung des Curriculums deutscher Theologiestudiengänge aus Studierendenperspektive heraus einsetzt.

Beendet wurde der Studientag mit einem von uns als Ortsgruppe vorbereiteten politischen Nachtgebet zu der aktuellen Situation in und um Lützerath, wo der Konflikt zwischen klimaschädlichen und staatlich geschütztem Braunkohleabbau durch RWE und der internationalen Klimagerechtigkeitsbewegung derzeit sein Gesicht zeigt. In gemütlicher Runde ließen wir abschließend den Studientag bei Essen und Getränken ausklingen.

Uns ist es wichtig, an dieser Stelle noch einige Punkte anzusprechen, die uns in und um den Studientag aufgefallen sind. Diese kritische Einordnung wollen wir gerne transparent machen.

Eine Situation während des Studientages hat uns nachhaltig beschäftigt: Im Laufe einer Diskussion wurden rassistische Äußerungen getätigt. Dies zeigt uns erstens, dass es auch an unseren Fakultäten rassistisches Verhalten gibt und koloniales Denken reproduziert wird, und wir fragen uns zweitens, ob genügend dagegen getan wird. Wir sind davon überzeugt, dass Lehre und Forschung nicht politisch neutral sein können und Positionierung sowie kritische Reflexion erfordern. Die Tübinger Theologien müssen antirassistisch sein!

Außerdem wurde uns bei der Begegnung der Fakultäten am Studientag deutlich, wie wenig Berührungspunkte und Austausch es doch zwischen diesen beiden gibt. Auch wenn Ökumene und Zusammenarbeit – gerade mit Blick auf den entstehenden interreligiösen Campus der Theologien – hochgehalten werden, finden diese im für uns sichtbaren alltäglichen Leben und Miteinander kaum oder sogar gar nicht statt. Ebenso wurden uns die strukturellen Hindernisse in der Vorbereitung eines ökumenischen Studientages stark bewusst. Wir als ökumenische Gruppe fordern eine echte Auseinandersetzung mit aktuellem Stand und Anspruch der Ökumene in Tübingen auf allen Ebenen von Professorium und Verwaltung über Mittelbau bis hin zu den Studierenden. Ökumene und Begegnung müssen zur Normalität werden!

Im Vorfeld des Studientages haben wir uns viele Gedanken über das Interesse bei Mitgliedern beider Fakultäten am Tag selbst und am Thema gemacht. Jetzt können wir sagen, dass dieses unterschiedlich groß war: Während der Hörsaal vormittags zu den Inputs einigermaßen voll war, fanden die Workshops am Nachmittag kaum Anklang. Wir sind uns bewusst, dass dies auch dem Termin und Aufbau des Studientages geschuldet sein könnte, dennoch fiel auf, dass verschiedene kirchliche und fakultäre Gruppen gar nicht oder äußerst schwach vertreten waren. Wir fragen uns, ob dieses offensichtliche Desinteresse als Ablehnung befreienden theologischen Denkens und Praxis verstanden werden soll. Außerdem zeigt es, dass in den Tübinger Fakultäten befreiendes theologisches Denken weder selbstverständlich noch alltäglich vorkommt.

Zweifellos bildet dieser Bericht unsere Sicht der Dinge ab. Es war sicherlich kein perfekter Studientag. Uns ist es z.B. nicht gänzlich gelungen, traditionelle Lehrformen aufzubrechen, auch wenn dies unser Anspruch war. Darüber hinaus wird uns auch unser Umgang mit diskriminierendem Verhalten weiter beschäftigen. Vor allem aber sind wir hoffnungsvoll, auch wegen des zahlreichen positiv-inspirierten Feedbacks, dass in Zukunft solche kritischen Reflexionen weiter und prominenter an unseren Fakultäten etabliert werden. Das zentrale Kriterium unseres Theologietreibens muss sein: Theologien dürfen nicht unterdrücken, sie müssen befreien!

Befreiungstheologisches Netzwerk Ortsgruppe Tübingen